Teilweise unbekannt ist das mittlerweile hoch betagte „Deutsche Tarot“, obwohl dessen Schöpfer Frank Glahn in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein bekannter und bedeutender Astrologe und Okkultist war. Doch in Tarot- Insiderkreisen ist das Glahn’sche Tarot dafür sehr bekannt und begehrt, wobei es zeitweise zu sehr hohen Sammlerpreisen gehandelt wird.
Über Frank A. Glahn ist leider nicht viel bekannt. Sowohl in der Tarotgeschichte als auch in den verschiedenen historischen Stationen der Astrologie wird er teilweise nicht einmal mehr erwähnt, auch wenn er mit seinen Werken einen beachtenswerten Beitrag leistete.
Frank Alan Glahn wurde am 18.01.1865 um 20.56 Uhr abends in Linden (Hannover) geboren. In seiner esoterischen Laufbahn war er zunächst als Adept bei der „Hamburger Schule“ (Astrologie), schuf aber dann später seine eigene astrologische „Glahn-Methode“ – eine Form der Rhythmenlehre, die nicht zuletzt wegen ihrer Komplexität heute nicht mehr gelehrt wird. Er publizierte zahlreiche Werke über Astrologie, Kabbala, Runen, Pendeln und Tarot. Sein erstes Werk erschien 1923 – es handelte sich hier um sein Tarotbuch. Einige Jahre später folgte sein Kartendeck, das „Deutsche Original-Tarot. Kartenspiel zur Zukunftserforschung auf kabbalistisch-astrologischer Grundlage“. Auf die Frage, weshalb ihm die Veröffentlichung eines deutschen Tarots so wichtig war, soll er lapidar geantwortet haben: „Zu einem deutschen Tarotbuch gehören nun mal deutsche Tarotkarten“. Berücksichtigt man das Nationalverständnis der Menschen damals und die Tatsache, dass das Thema ‚Globalisierung’ zu dieser Zeit nicht relevant war, sowie nicht zuletzt den Druck unter dem nationalsozialistischem Regime, dann erscheint diese Haltung auch verständlicher.
Beruflich begann seine Karriere 1891 als Leiter einer Krankenkasse. Ab 1910 war er Fabrikleiter “eines der bedeutendsten Unternehmen der Nahrungsmittelbranche in Hamburg”. Wenn auch nicht viel über diesen Mann bekannt ist, sicher dürfte sein, dass er es Zeit seines Lebens nicht leicht hatte. Laut eigenen Aussagen war der schwärzeste Tag der 15. Februar 1916. An diesem Tag erschoss seine gemütskranke Frau in einer Phase der geistigen Unzurechnungsfähigkeit ihre gemeinsamen 4 Kinder, was bei Frank Glahn selbst eine schwere Krise auslöste.
Glahn starb am 6. Februar 1941. Verschiedener Aussagen zufolge kam er in einem Konzentrationslager ums Leben, nachdem er – ähnlich wie sein Schweizer Kollege Ernst Krafft – sich fatalerweise auf die Nazis eingelassen hatte. Gerüchten zufolge publizierte auch er lobende Deutungen und glänzende Prognosen zum Radixhoroskop des „Führers“. Sein Werk „Jedermanns Astrologie für das deutsche Volk“ erschien 1935.
Das Werk
Frank A. Glahn dürfte der einzige Tarotkundige gewesen sein, der versuchte, die Kabbala mit der ägyptischen und der germanischen Mythologie in seinem Kartendeck zu vereinen – wofür er letztendlich auch belächelt wurde oder auf Unverständnis stieß. Glahn war außerdem bekennender Christ. Im Hinblick auf den Tarot war er von der Lehre Papus’ überzeugt und sah den Ursprung der Karten in Ägypten. Das Erscheinen des Deutschen Tarot liegt zeitlich zwischen der Veröffentlichung des legendären Decks von Arthur Waite (1910) und der Entstehung der Karten von Aleister Crowley (1944) – einer Zeit, die für die moderne Tarotwelt von großer Bedeutung ist. Doch das Deck erreichte bei Weitem nicht die Auflage, geschweige denn wurde es zu einem Klassiker, das heute in verbesserter und modernisierter Auflage in den Buchhandlungen ausliegt.
Betrachtet man sich die Karten, dann ahnt man sehr schnell, warum das so sein könnte, denn zugegebenermaßen muten die Karten auf dem ersten Blick etwas eigenartig an: sie sind nicht nur ziemlich klein, auch die Qualität wird dem heutigen Anspruch nicht mehr gerecht, der Karton weich, das Deck sieht fast wie selbst gebastelt aus. Kein Wunder, die jüngste Auflage stammt aus dem Jahre 1958. Stabile, robuste, farbenprächtige oder laminierte Karten konnten sich nur die Verleger von Spielkarten in Millionenauflage leisten. Auch der künstlerische Anspruch ist ein gänzlich anderer als der, den wir gewohnt sind. Das leuchtet ein, da Deutschland damals zu den wirtschaftlich armen Ländern gehörte und sich Glahn eine Künstlerin wie Pamela Colman-Smith oder Lady Frieda Harris schlichtweg nicht leisten konnte.So malte er seine Karten einfach selbst. Die Bilder versah er mit sprechenden Titeln, dabei wurde von ihm berücksichtigt, ob die Karte aufrecht oder auf dem Kopf lag.
Die Karten – Bedeutung gestern und heute
Werfen wir einen Blick auf die Karten, die teilweise kindlich und naiv anmuten. Die Karte IX entspricht dem Eremiten. Die „Klugheit“ bzw. der „Prozessgewinn“, der ihr hier dieser Karte zugesprochen wird, entspricht dem heutigen Verständnis von Weisheit und Autonomie. Die umgekehrte Karte kommt in diesem alten Deck weniger gut weg, denn hier wird „Verleumdung, Falschheit, Prozeß“ angekündigt.
Verführung und Unfreiheit um 1923: von „Trübsinn“ und „Verderben“ ist bei der Karte XV (trad. Der Teufel) die Rede. In der umgekehrten Position steht sie schlichtweg für den „Schwarzmagier“ oder gar der „Krankheit“ oder dem „Irrsinn“; gemeint ist hier das Verstoßen gegen die eigenen Prinzipien.
Die Ritter werden oftmals als Stimmung, in der etwas geschieht, interpretiert oder als Personen verstanden. Die liebevolle Frühlingsstimmung, die den Ritter der Kelche charakterisiert, interpretierte Frank Glahn als „gewünschte oder unerwartete Ankunft“. Umgekehrt hingegen soll die Karte ihre Schattenthemen durch „Betrug“ bzw. „Spitzbübigkeit“ zum Ausdruck bringen.
Die hitzige Stimmung und die Konfliktbereitschaft des Stabritters wurde primär auf der Ereignisebene übersetzt: „Militärperson oder Krieg“ sollte diese Karte ankündigen; in der umgekehrten Position ist die feurige Energie des Stabritters offensichtlich gehemmt, Glahn spricht von der „Unentschlossenheit im Handeln“.
Tatendrang, Selbstbestimmtheit und Lebenslust sind Eigenschaften der Königin der Stäbe. Vor über 80 Jahren war es „die Frau, die Anteil an uns nimmt“. In der umgekehrten Position ist sie in ihrem Handlungsspielraum gehemmt – ob es tatsächlich ein Mann ist, der „sie daran verhindert“, wie der Untertitel des Deutschen Tarots verrät, bleibt offen.
Auch die 2 der Kelche wurden als Synthese und Verbindung auf der emotionalen Ebene verstanden. Auf der ereignisorientierten Ebene sprach man damals wie heute von der „Liebesbande“, während die auf dem Kopf stehende Karte nur „Sehnsucht“ bzw. eine „Erklärung“ ankündigte.
Determinismus versus Selbsterkenntnis?
Im Hinblick auf die damalige Deutung der Karten sei noch etwas zu dem Thema „Determinismus“ gesagt: in dieser Hinsicht stößt ja die ältere Literatur, so auch die Werke von Glahn, oftmals auf Ablehnung oder gar harsche Kritik. Oftmals wird den Autoren der alten Schule Inkompetenz und fehlendes Verständnis unterstellt – meiner Meinung nach zu Unrecht. Denn:
- betrachtet man das damalige Verständnis der Menschen von Schicksal und Freiheit, wird schnell klar, dass sie in vielen Angelegenheiten schlichtweg nicht den Handlungsspielraum hatten, den wir heute kennen. „Selbstverwirklichung“ dürfte ein Thema gewesen sein, was als egoistisch empfunden wurde, ja vielleicht auch noch unbekannt war.
- immer wieder stößt man in der älteren Literatur auf Ereignisse, denen sich Menschen fügen mussten: die beiden Weltkriege, eine Inflation, eine Hungersnot… Deshalb ist es nicht erstaunlich, wenn nicht die Fragen nach der Selbsterkenntnis, sondern schlichtweg die Fragen nach dem Überleben im Vordergrund standen. Auch die medizinischen Möglichkeiten waren gänzlich andere. Im Hinblick auf die hohe Kindersterblichkeit nimmt es nicht wunder, wenn Glahn versuchte, die Möglichkeiten und Chancen eines Neugeborenen astrologisch zu untersuchen.
- studiert man die alten Texte sehr aufmerksam, dann wird dennoch auch schnell deutlich, dass Glahn den Tarot (und auch die Astrologie) nicht nur als schicksalsgläubige „Wahrsagerei“ verstand, auch wenn die Deutungen oftmals diesen Eindruck erwecken. Im Gegenteil, die vermeintlich deterministischen Interpretationen sind meist als Beispiele zu verstehen – sozusagen als Versuch, die zahlreichen Facetten einer Karte deutlich zu machen. Dass er versuchte, den Tarot als Instrument zu verstehen, welches uns zu freiem Handeln ermuntern soll, wird anhand des nachstehenden Zitats deutlich, das zeitweise für den heutigen Sprachgebrauch etwas merkwürdig und hart klingt, aber doch irgendwo den Punkt trifft:
„Das Wahrsagen steht tief in der Achtung, es verbleibe da! Dem Urteil liegt die Einsicht zugrunde, dass der Wahrsagung Heischende sich willenlos und tatenlos einem unvermeidlichen Schicksal verfallen däucht und nichts aus deinen Kräften zu schaffen gedenkt. Als Minderwertige erscheinen diese Menschen. […] Anders der wirkungskräftige Mensch. Was er zu erhalten wünscht, sind Ratschläge für sein Verhalten, sind Einsichten in das Werden, Walten und Wandeln aller Dinge. […] Darin steht der wirkende Mensch und sucht den Ablauf zu ergründen, um danach sein Handeln zu bestimmen.“
Mein Resümee ist also: Wir dürfen die Werke unserer Vorfahren nicht als überholt und falsch ansehen, nur weil sie nicht mehr in unsere heutige Weltanschauung passen, sondern sollten sie achten und zu verstehen versuchen. Es ist nicht das Unverständnis unserer Ahnen, das die alte Tarot-Literatur uns heute in einem anderen Licht erscheinen lässt, sondern die Qualität der damaligen Zeit, auf die unser Zeitgeist wiederum aufbaut. So lohnt es sich also, sich mit dem mitunter etwas merkwürdigen „Deutschen Tarot“ auseinanderzusetzen, ohne in zu verurteilen.
Dieser Artikel von mir ist auch in der Zeitschrift des Deutschen Tarotverbandes (“Tarot Heute”, Ausgabe 13 – Januar 2007) erschienen.
Bilder/Karten:
Bei dem mittlerweile vergriffenen “Deutschen Tarot”, dessen letzte Auflage aus den 1950er Jahre stammt, konnte ich trotz sorgfältiger Recherche keine Hinweise auf Abdruckrechte/Copy in Erfahrung bringen. Falls Besuchern dieser Website irgendetwas diesbezüglich bekannt sein sollte, bin ich um jeden Hinweis dankbar.
Literatur / Karten:
Frank A. Glahn: „Deutsches Original Tarot – Kartenspiel zu Zukunftserforschung auf kabbalistischerastrologischer Grundlage“, Bauer-Verlag, Freiburg. Mittlerweile vergriffene Tarotkarten, teilweise im Antiquariat zu teueren Preisen erhältlich. Ab und zu gibt es aber auch „Glückstreffer“ zu akzeptablen Preisen, wie z.B. bei Privatauktionen.
Frank A. Glahn: „Der Deutsche Tarot“, Bauer-Verlag, Freiburg. Mittlerweile vergriffenes Buch zu den o.g. Karten, jedoch im Gegensatz zum Kartendeck in verschiedenen Antiquariaten jederzeit zu erschwinglichem Preis